Kultur verbindet – Neue Sachlichkeit, eine Brücke zwischen Deutschland und der Türkei

„Die 20erJahre haben uns alle hier heute zusammengebracht“. Petar Drakul, Leiter FutuRaum und Innenstadtbeauftragter eröffnete die Veranstaltung Unerwartete Nähe? Die „Neue Sachlichkeit und die Türkei“ in der Kunsthalle mit dem, was Kunst sein kann: integrativ. Die Idee und Umsetzung entstand in einer Kooperation von: FutuRaum, dem Deutsch Türkischen Institut für Arbeit und Bildung (DTI) und der Kunsthalle.

Über 100 Gäste folgten dem Vortrag, dem sich eine Führung anschloss. Einige besuchten zum ersten Mal die Ausstellung, die am 9. März zum letzten Mal zu sehen ist und jetzt gegen Ende einen Ansturm an Besucher*innen erlebte.
Zum Gelingen trugen Gizem Weber, Projektkoordinatorin des DTI, die Musiker der Orientalischen Musikakademie Mannheim mit Teilen der Gruppe Incesaz bei, vor allem aber die in Hamburg lehrende Kunsthistorikerin Dr. Buket Altinoba, die in einem dicht mit Informationen gefüllten Vortrag an Beispielen zeigte, wie sich Türkische Kunstschaffende und deutsche Vertreter der Neuen Sachlichkeit gegenseitig beeinflussten, auf dem Weg in die Moderne. Sie widmete sich der Frage, welche Verbindungen zwischen der Neuen Sachlichkeit und den gesellschaftlichen sowie kulturellen Umbrüchen in der Türkei nach der Republikgründung 1923 bestanden.

Veränderungen demokratisch gestalten

Thorsten Riehle, Bürgermeister für Wirtschaft, Arbeit, Soziales und Kultur betonte in seinem Grußwort die Bedeutung der „Neuen Sachlichkeit“ und das jetzige Rahmenprogramm zum Jubiläum, das wie auch die Ausstellung in der Kunsthalle zum  Publikumsmagnet geworden ist. Die so genannten ‚goldenen 20er‘ seien von Armut und Kriegstraumata geprägt gewesen; aber eben auch durch den Aufbruch in die Modernität und das Streben nach einem besseren Leben. Beispielhaft nannte Riehle das 1918 eingeführte Wahlrecht für Frauen. „Die Weimarer Zeit mit ihren großen Umbrüchen und der Hoffnung auf mehr Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit erinnert uns daran, dass diese Werte nicht selbstverständlich sind. Deshalb müssen wir Veränderungen, die es immer geben wird, aktiv und demokratisch gestalten und die Gesellschaft dadurch gerechter und solidarischer machen.“

Von links: Gizem Weber, Petar Drakul, Dr. Buket Altinoba, Mustafa Baklan, Vorstandsvorsitzender des Deutsch Türkischen Instituts für Arbeit und Bildung (DTI) und Dr. Franz Egle, Stellvertretender und geschäftsführender Vorsitzender des DTI.
Im Gespräch, von links: Mustafa Baklan und Thorsten Riehle.

Neuorientierung nach der Republikgründung

Altinoba ordnete die in den 20er entstehende Kunst in der Türkei in die Zeit ein, in der in Teilen ein Bruch mit der Tradition stattfand. Auch an der Istanbuler Kunstakademie sei die nüchterne Ästhetik und der Stilpluralismus der Neuen Sachlichkeit prägend gewesen. Künstler wie Zeki Kocamemi oder Ali Avni Celebi reisten in den 20ern mit staatlichen Stipendien nach München und Berlin und schrieben sich in der privaten Akademie des Kunstpädagogen Hans Hofmann ein. Als Kunstlehrer hatte Hofmann in München viele ausländische Schüler, weil er sich im Gegensatz zu den Staatlichen Kunstakademien an keine Beschränkung für deren Zahl halten musste.“ Während wir noch über Matisse und Picasso scherzten, kehrten Zeki Kocamemi und Ali Avni Celebi aus Deutschland zurück…Zeki und Ali haben für uns den Vorhang der neuen Kunst gelüftet“, zitierte Altinoba die Wahrnehmung eines Studenten.

Foto oben: Die Sängerin Ezgi Köker verzauberte das Publikum. Die türkische Sängerin und Komponistin gehört zu den besten Sängerinnen in der Türkei und beeindruckt mit ihrer einzigartigen Stimme und musikalischen Vielseitigkeit.
Von links:  Cengiz Onural (Gitarre). Er ist der Gründer des Ensembles Incesaz, mit dem er die traditionelle türkische Musik auf einzigartige Weise neu interpretiert.
Taner Sayacioglu spielte die türkische Kastenzither (Kanun) und Murat Aydemir.

Die Kunsthistorikerin hatte zudem etliche  Aufnahmen von Bildern mitgebracht wie „Das Schaufenster“ oder „Der Maskenball“, die unverkennbar die Züge der „Neuen Sachlichkeit“ tragen. Ein schönes Beispiel war auch das Gemälde von Refik Fazil Epikman „In der Bar“, mit Parallelen wie Unterschieden zu Gemälden von Otto Dix.  

Hala Asaf: Selbstporträt1928

Zur Gruppe der türkischen Kunstschaffen zählten auch Frauen wie Mihri Müşfik Hanım, die Gründerin der ersten Kunstakademie für Frauen in Istanbul 1914, die ihre Nichte, die Künstlerin Hala Asaf, förderte. In einem der Selbstporträts von Asaf wird die moderne Frau par excellence präsentiert.

Spannendes Hintergrundwissen

„Die ‚neuen“ Kunstschaffenden‘ fanden Kritiker und Bewunderer“, sagte Altinoba. Zudem kamen, nachdem der Druck der Nationalen in Deutschland zunahm, 24 Exilwissenschaftler nach Istanbul, um dort zu unterrichten. Einer von ihnen war Rudolf Belling, einer der wichtigsten Bildhauer der klassischen Moderne. Er war ab 1937 Leiter der Klasse für Bildhauerei der Kunstakademie in Istanbul. 
Die Skulptur der Boxer (Max Schmeling) ist Teil der Ausstellung „Neue Sachlichkeit“ in Mannheim. Sie entstand 1929. Das Reiterstandbild des türkischen Staatspräsidenten İsmet İnönü 1938 in der Türkei.
Kunst verbindet. Viele Werke der türkischen Vertreter*innen sind heute im Staatlichen Museum für Gemälde und Skulpturen in Istanbul zu sehen.
Gut gewappnet für die Thematik schlossen sich fast alle Gäste den anschließenden Führungen an. Für viele war die Ausstellung neu wie Yildiz Sultan, die mit Tochter Erbas, der wohl jüngsten Teilnehmerin vor allem die vielen Details, die man sonst nicht beachtet, superspannend fand. Sie will auf jeden Fall nochmal kommen, nach so viel Hintergrundwissen.

Gruppenführung durch die Kunsthalle nach dem Vortrag von Buket Altinoba.
Zeit für ein Foto in einem kurzen Moment abseits des Besucherandrangs. Die vier Frauen waren zum ersten Mal in der Kunsthalle in der Ausstellung zur Neuen Sachlichkeit. Von links: Pelin Erbas mit Mutter Yildiz Sultan. Aynur Sahin und Sevgi Sahin. Die vielen Details, die man erst entdeckt, wenn man die Bilder anschaut, waren für sie besonders spannend.